Wer leben will, muss träumen

19977963_19977963_xlRaus aus dem Hamsterrad, ab unter die Dusche. Die Rezepte, die Deutschland-Psychologe Nr. 1 Stephan Grünewald seinen Lesern auf den Weg gibt, sind so einfach wie brachial. Gegen die Controllingwut in Unternehmen und den Kontrollwahn zuhause setzt er das gepflegte Chaos. Und rät dringend, endlich wieder zu träumen. Den Analysen des Psychologen liegen mehrere tausend Tiefeninterviews zugrunde, aus denen er in seinem Buch „Die erschöpfte Gesellschaft“, erschienen bei Campus, deutsche Befindlichkeiten herausdestilliert. Und damit ein erkenntnisreiches Lesevergnügen schafft.

Mit Meister Propper gegen Eurobonds

Keine Angst, es handelt sich nicht um psychologisches Kauderwelsch. Stephan Grünewald macht gleich auf den ersten Seiten klar, dass er sein Wissen zwar auf einer soliden empirischen Basis entwickelt hat, dass er aber keinesfalls gedenkt, seine Leser mit Zahlen und Statistiken zu traktieren. Stattdessen assoziiert er pointiert und mit überbordender Kreativität Zusammenhänge, die sonst keiner sieht. Die seit der Finanzkrise zu registrierende „Zunahme von Aktivitäten wie Putzen oder Heimwerken“ zum Beispiel. Für Grünewald ein Indiz, dass „die häuslichen Kleinkriege und privaten Bodenoffensiven, die beim Putzen mithilfe eines hochgerüsteten Reinigungsarsenals geführt werden, das siegreiche Gefühl vermitteln, feindliche Eindringlinge abwehren zu können.“ Mit Meister Propper gegen die Eurobonds also.

Wo Erschöpfung der Gradmesser für Leistung wird, ist Burn-out vorprogrammiert

Erhellend auch seine Analyse des grassierenden Burn-out-Syndroms. In einer Zeit, in der die Arbeitsleistung nicht mehr anhand eines gefertigten Werkstücks erkannt werden kann, bleibt, so Grünewald, nur noch der Erschöpfungszustand als Gradmesser. Nur wenn ich erschöpft bin, habe ich etwas geleistet. Und je erschöpfter ich bin, desto leistungsfähiger bin ich. Ein Spagat, der damit enden muss, dass die Sehnen reißen.

Über den persönlichen Wert bestimmt der Applaus der anderen

Andere Szenen aus dem Hamsterrad entdeckt der Psychologe im Wandel der Wertschätzung, die immer mehr nach außen verlagert wird. Sinnbildlich nennt er dafür die Castingshows, in denen per Publikums-Applaus über Wohl und Wehe der Kandidaten entschieden wird. Und als digitales Äquivalent dazu den „Gefällt mir“-Button bei Facebook. „Bleibt dieser erhobene Daumen aus, so zweifelt man an sich selbst oder an seinem kleinen Werk, das man ins Netz gestellt hat. Und stürzt sich danach umso stärker in neue Aktivitäten.“

Träume zeigen, dass da noch etwas anderes ist

Wer dermaßen getrieben ist, wird irgendwann erschöpft auf der Strecke bleiben. Grünewald hält in seinem Buch deshalb ein Plädoyer für das Träumen. Für die halbwachen Zwischenzustände, für die Informationen, in denen unsere Psyche die Widersprüche des Lebens und die Kraft der Emotionen austariert. Dabei gibt Stephan Grünewald nicht den Traumdeuter. Darauf kommt es nicht an. Sondern darauf, auf die Traumstimmen zu hören, die Traumbilder anzuschauen. Denn in ihrer Verrücktheit und Verstricktheit zeigen sie uns, so Grünewald, dass es ein Jenseits des Hamsterrads gibt.

Kreativität, Erfindergeist und Innovation entstehen nicht am Reißbrett

Von der Warte des Gesellschaftsanalytikers gesehen, sind diese Träume die Voraussetzung, „für das Umgestalten der Wirklichkeit“. Denn „Erfindungen, technische Innovationen, künstlerisches Schaffen, naturwissenschaftliche Entdeckungen oder philosophische Weltdeutungen sind nur möglich, wenn man sich aus der rationalen Tagesordnung löst und die Welt traumartig mit anderen Augen sieht.“

Auch auf dem Jakobsweg kann man dem Tod nicht davonlaufen

Vor dieser Folie wirft er einen Blick auf die Senioren, die versuchen, „auf Trimmpfaden oder auf Jakobswegen, dem Tod davonzulaufen“. Statt im Bewusstsein der Endlichkeit „Kräfte zu gewinnen, die das Leben bereichern“. Er nimmt die „Latte-macchiato-Mütter“ unter die Lupe, die zu den alten Mutteridealen einfach neue Ideale aufgeschultert bekamen. Jetzt heißt es, alles auf einmal zu machen und dabei noch guter Laune zu sein. Und er betrachtet erhellend die „neue“ Jugend, deren Rebellion darin besteht, nicht zu rebellieren, sondern sich mit „Ohrenschnullern“ (MP3-Playern) verstöpselt von möglichen verstörenden Leerstellen abzukapseln.

Roter Reiter.de Fazit: Kreative Gesellschaftsanalyse aus der Warte eines Psychologen. Mit dem dringenden Rat an die Gesellschaft, die Traumlogik zu nutzen, „um ihr kreatives Potenzial zu entfalten“. Dazu gehört es, die „Dehnungsfugen und Übergangsmomente“ zu inszenieren und damit aufzuhören, die Freizeit mit nie zu erfüllenden „Paradiesträumen zu überfrachten“. Oder einfach mal gaaaaanz lange zu duschen.

Wolfgang Hanfstein, www.Roter-Reiter.de

Stephan Grünewald: Die erschöpfte Gesellschaft. Campus 2013

Mehr zu “Die erschöpfte Gesellschaft” auf Managementbuch.de

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*


Durch die weitere Nutzung der Seite stimmen Sie der Verwendung von Cookies auf dieser Seite zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen